Politische Justiz, Herrschaft, Widerstand by Jürgen Zarusky

Politische Justiz, Herrschaft, Widerstand by Jürgen Zarusky

Autor:Jürgen Zarusky
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: De Gruyter
veröffentlicht: 2021-02-28T19:22:29.629000+00:00


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Diktaturvergleich und Totalitarismus-Debatte nach dem Ende des Kommunismus

Mit dem Ende kommunistischer Herrschaft in Osteuropa haben aber auch zahlreiche Länder des ehemaligen Ostblocks die Zugehörigkeit zum okzidentalen Kulturkreis für sich reklamiert. Nicht zuletzt propagierte Michail Gorbačev das gemeinsame Haus Europa. Allen enttäuschten Hoffnungen und gegenläufigen Tendenzen der jüngeren Zeit zum Trotz sind uns die Länder der ehemaligen Sowjetunion näher denn je. Und das gilt nicht nur für die einstmals von der UdSSR annektierten und heute zur Europäischen Union gehörenden baltischen Staaten, deren Bürger am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts mit der längsten bekannten Menschenkette der Geschichte auf über fast 600 Kilometern für die historische Wahrheit und ihre Unabhängigkeit demonstrierten.

Das Wissen über die Geschichte der UdSSR und insbesondere den Stalinismus ist seit Anfang der 1990er Jahre, als die Archive – wenn auch nicht immer vollständig – geöffnet wurden, immens gewachsen. Wie wenig man bis dahin über den Stalinismus wusste, zeigten die Enthüllungen über den Großen Terror der Jahre 1937/38, über dessen Ablauf, Initiatoren und Opfer die unterschiedlichsten Versionen kursierten. Wir wissen heute, dass es sich hierbei um die massivste Verfolgungskampagne in der Geschichte der UdSSR nach dem Ende des Bürgerkriegs handelte: Circa 1,5 Millionen Menschen wurden verhaftet, fast 700 000 von ihnen erschossen, zumeist ohne jegliche gerichtliche Verhandlung – wenn es eine solche gab, handelte es sich um Scheinverfahren, deren Ausgang vorab entschieden war. Entgegen dem Modell der Revisionisten, die die stalinistischen Verfolgungen bis dato in Analogie zum Modell der funktionalistischen kumulativen Radikalisierung interpretiert hatten, zeigte sich, dass Stalin im Großen Terror alle Fäden in der Hand gehalten hatte. Instanzenkonkurrenz oder von unten und von mittleren Entscheidungsebenen in Gang gesetzte Dynamiken spielten in der UdSSR keine entscheidende Rolle. Umfangreiche neue Erkenntnisse gab es auch über die brutale Zwangskollektivierung und die von ihr ausgelöste Hungersnot, die vor allem in der Ukraine und unter den Nomaden Kasachstans Millionen von Opfern forderte.

Über die Hungersnot in der Ukraine wird bis heute ein wissenschaftlicher und erinnerungspolitischer Disput geführt. Eine Reihe von Wissenschaftlern und nationalorientierten Kräften der ukrainischen Politik sehen darin einen gezielten Genozid Stalins und seiner Entourage am ukrainischen Volk – andere Interpretationen gelten als strafrechtlich relevante Leugnung des „Holodomor“. Kritiker dieser Version, die keineswegs die politische Verantwortung der sowjetischen Führung für den großen Hunger leugnen, weisen darauf hin, dass es im Gegensatz etwa zu den Massenmorden des Großen Terrors an Quellen fehlt, die eine genozidale Intention Stalins belegen. Außerdem verweisen sie auf die Tatsache, dass nicht nur Ukrainer vom Hunger betroffen waren. Der Diskurs um den „Holodomor“ findet sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf einer geschichtspolitischen Ebene statt. Es bedarf wohl keiner eingehenden Erläuterung, dass die Wissenschaft gegenwärtig in der Defensive ist. Insgesamt wird die Stalinismus(Kommunismus)-Nationalsozialismus-Diskussion heute sehr stark von identitätspolitischen Gesichtspunkten dominiert.

Die Staaten, die aus dem Zerfall des sowjetischen Imperiums und der Sowjetunion selbst hervorgegangen sind, waren und sind auf der Suche nach sich selbst und damit nach historischen Identitätsangeboten. Für viele Regionen und Länder gehört die zeitweilige Herrschaft von Nationalsozialismus und Stalinismus zum historischen Erbe. Die ostmittel- und osteuropäischen Gebiete müssen sich



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